Die sogenannte westliche Welt ist in Aufruhr: Sind die Aufklärung und der lange Weg zur modernen Demokratie an ihr Ende gekommen? Ist die „offene Gesellschaft“ zu einem Muster ohne Wert geworden? Was wir vor zwanzig Jahren noch als „Wahlmüdigkeit“ oder „Politikverdrossenheit“ bezeichnet und hingenommen haben, tritt uns seit kurzer Zeit als unverhohlener Hass gegen das „ganze System“ der demokratisch verfassten Gesellschaften in Europa (und den USA) entgegen. Regierungen, Parlamente, Rechtsprechung, Medien und Verwaltungen werden beschimpft und bedroht, schlimmer noch, sie werden für obsolet gehalten. Als sogenannte Alternativen werden autokratische Verhältnisse gefordert, die alles über den Haufen werfen sollen, was an Strukturen des friedlichen Zusammenlebens über Jahrzehnte und Jahrhunderte aufgebaut wurde.
Die Vielschichtigkeit dieser gesellschaftlichen Krise zu verstehen und Wege zur Bewältigung zu finden, ist sehr schwer. Vieles ist dazu bereits gesagt und geschrieben worden. Zum einen ist natürlich zu fragen, was auf der politischen Ebene in den letzten 10-20 Jahren falsch gelaufen ist. Warum wurde der zunehmenden Polarisierung von Arm und Reich nicht wirksam entgegen gesteuert? Wie konnte sich das Projekt der Europäischen Union so weit von den alltäglichen Anforderungen der Bevölkerungen entfernen? Wurde die globale Flüchtlingskrise falsch (zu spät) erkannt und angepackt?
Auf einer anderen Ebene sind wir Demokraten aufgefordert, darüber nachzudenken, wie es kommen konnte, dass – unterhalb von inhaltlichen Auseinandersetzungen um politische Richtungen – jedwedes Verständnis darüber, WIE sich eine Gesellschaft über ihren Zustand und ihre Zukunft Rechenschaft ablegt, abhanden gekommen zu sein scheint. Was wir heute in weiten Kreisen wahrnehmen, was Menschen auf die Straße treibt und sich in den „sozialen Medien“ widerspiegelt, ist ein kompletter Verlust aller selbst gesetzten Regeln eines demokratischen Zusammenlebens. Rufe wie „Volksverräter“, „Lügenpresse“, „Ausländer raus“, Verschwörungstheorien aller Art werfen alles über Bord, was sich europäische Gesellschaften an Werten, Gesetzen und Institutionen über Jahrhunderte als demokratisches „Korsett“ für ein zivilisiertes Miteinander erkämpft und aufgebaut haben.
Um welches Fundament, das da zu bröckeln scheint, handelt es sich also, worin besteht die Basis einer „offenen Gesellschaft“, die man nur um den Preis eines neuen Totalitarismus verlassen könnte? Ich habe versucht, auf eine ganz persönliche Art darauf einige Antworten (sicher keine endgültigen, hoffentlich ein paar valide) zu geben, die ich dem Leserkreis unseres Newsletters gern zur Diskussion stellen möchte. Weil das etwas Platz in Anspruch genommen hat, soll der Text unter dem Titel „’Unterm Strich zähl ich’. Anmerkungen zur Degeneration der demokratischen Kultur“ in Kürze als Extraausgabe des Newsletter erscheinen.