Zur aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik in Baden-Württemberg wendet sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann direkt an die Mitglieder von Bündnis90/Die Grünen und an die GAL. Hier sein Brief vom 17. März 2015 im Wortlaut:
Liebe Freundinnen und Freunde,
2014 kamen 50 % mehr Flüchtlinge nach Baden-Württemberg als 2013; das Bun- desamt für Migration (BAMF) rechnet für 2015 mit 25% mehr Flüchtlingen als 2014. Im Haushalt 2015 haben wir 330 Mio. und für 2016 345 Mio. im Ansatz, zudem ha- ben wir bei steigendem Bedarf noch Puffer in den Rücklagen.
Allein an diesen Schlaglichtern seht Ihr: das Thema Flüchtlinge ist eine der zentralen Aufgaben und Herausforderungen für die Landespolitik und für die Landesregierung. Ob wir diese Aufgabe meistern und zwar nicht irgendwie, sondern gut, daran werden wir gemessen. Das ist nicht immer einfach.
Doch eines sollten wir nie vergessen: Die wirklichen Probleme haben nicht wir, die wirklichen Probleme haben die Flüchtlinge. Weltweit sind 51 Mio. Menschen auf der Flucht, so viele Menschen wie noch nie. Ursachen sind eine Vielzahl von Krisenher- den, Kriegen und z. B. der Genozid an Jesiden im Nordirak.
Viele Menschen fürchten nicht nur um ihre Existenz, sondern Leib und Leben ist in Gefahr.
Art. 16 a unseres Grundgesetzes ist glasklar:
Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.
Und das bedeutet: Für diese Menschen sind wir da. Sie brauchen unsere Hilfe und deshalb bekommen sie unsere volle, bestmögliche Unterstützung. Und ja: Für Ver- folgte ist das Boot bei uns nie voll.
Stuttgart, 17. März 2015
Wir nehmen den Auftrag des Grundgesetzes sehr ernst. Eshat nicht nur aufgrund unserer historischen Vergangenheit ein besonderes Gewicht. Das Asylrecht gehört schlicht zum Kernbestand einer humanen Gesellschaft.
Wir nehmen unsere Verantwortung sehr konkret wahr: Die Landesregierung hat in kürzester Zeit tausende neue Plätze in Aufnahmeeinrichtungen überall im Land ge- schaffen, mit denen wir die stark steigende Zahl von Flüchtlingen bewältigen.
Zusätzlich dazu organisieren wir unter höchstem persönlichen Einsatz unserer Mit- arbeiterinnen und Mitarbeiter ein Sonderkontingent für bis zu 1000 sexuell miss- brauchte Mädchen und Frauen aus dem Nordirak und aus Syrien. Wir sind sehr zu- versichtlich, dass noch Ende März die ersten Frauen zu uns kommen, wir ihnen hier in Baden-Württemberg Unterstützung und medizinische Hilfe zukommen lassen und dass sie hier vor allem in Sicherheit sein können.
Als erstes Bundesland haben wir ein Stipendienprogramm für 50 syrische Flüchtlinge im Kabinett beschlossen und ermöglichen damit ein Studium an einer unserer Uni- versitäten.
Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger steht hinter dieser Politik. Und mehr noch: Eine große Zahl von Menschen leistet vor Ort ganz konkret ehrenamtlich Hilfe. Ob bei der Unterbringung, beim Spenden von Möbeln, Kleidung, Spielsachen oder Geld oder bei der Hilfe von Hausaufgaben und Deutschkursen.
Der Zustrom ehrenamtlicher Hilfe ist so groß, dass es vielerorts ohne eine professio- nelle Koordination seitens der Wohlfahrtsverbände und Kommunen nicht ginge.
Für die große Empathie der Bürgerinnen und Bürger sind wir äußerst dankbar. Wir sind uns bewusst, wie wenig selbstverständlich und wie fragil sie ist. Deshalb verste- hen wir es als zentralen Teil unserer politischen Verantwortung, den dahinterstehen- den gesellschaftlichen Konsens zu erhalten.
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Neben politisch verfolgten Menschen kamen und kommen gegenwärtig auch sehr viele Menschen aus den Balkanstaaten zu uns.
Wir wissen alle, niemand verlässt ohne Grund seine Heimat. Wir wissen, dass viele den unrealistischen Versprechungen von Schlepperbanden Glauben geschenkt ha- ben, Haus und Hof verlassen haben, mit der Hoffnung in Deutschland ein wirtschaft- lich auskömmliches Leben und eine Perspektive für ihre persönliche Zukunft zu fin- den. Und nicht selten müssen wir feststellen, dass sie ärmer als zuvor zurückkehren.
Die wirtschaftliche, soziale und politische Situation ihrer Heimatländer ist schwierig, die Lebenssituation der Menschen oft prekär und das soziale Gefälle zu den be- nachbarten Ländern der Europäischen Union groß.
So haben allein in den ersten Februarwochen rund 1400 Kosovaren Asyl in Baden- Württemberg beantragt. Dies führte vor Ort zu einer massiven Überlastung der Ein- richtungen, obwohl wir die Plätze in Aufnahmeeinrichtungen überall im Land inner- halb nur weniger Monate fast verdoppelt haben.
Das Asylrecht wurde für eine massenhafte Zuwanderung von Menschen, die nicht politisch verfolgt sind, nicht geschaffen. Es ist nicht das geeignete Mittel für Men- schen, die unter den wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Bedingungen in ihren Heimatländern leiden und eine bessere Perspektive suchen. Diesen Menschen wer- den wir über das Asylrecht nicht helfen können. Aber ihr Schicksal lässt uns nicht kalt. Wir haben eine politische Verantwortung uns für bessere Bedingungen in ihren Heimatländern einzusetzen und dort, wo möglich Perspektiven auch bei uns zu er- möglichen.
Ich habe deshalb meine beiden Minister Silke Krebs und Peter Friedrich gebeten, in den Kosovo zu reisen, dort Gespräche zu führen und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen.
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Viele Menschen im Kosovo haben z. B. eine Berufsausbildung in der Altenpflege, können Deutsch und würden gerne bei uns arbeiten. Gerade Pflegekräfte werden händeringend gesucht. Auch in der Landwirtschaft, in Mangelberufen und auch mit Kooperationen an den Hochschulen lassen sich Perspektiven schaffen. Hier wollen wir einen Beitrag leisten. Da sind wir entschieden und klar.
Klar ist aber auch: wir werden nicht allen Perspektiven aufzeigen können und nicht alle, die zu uns kommen, können auch bleiben. Wir werden auch vermehrt Menschen abschieben müssen. Dabei sind wir uns bewusst, dass Abschiebungen aufgrund der konkreten Schicksale, die damit verbunden sind, immer schwierig sind und bleiben. Um die Kriterien für Abschiebungen für alle transparent zu machen, haben wir einen Katalog von Leitlinien vorgelegt. Mit diesen spielen wir bundesweit eine Vorreiterrolle im Hinblick auf Transparenz und Nutzung der durch Bundesrecht begrenzten rechtli- chen Spielräume für eine humanitäre Abschiebe-Praxis.
Die freiwillige Rückkehr hat Vorrang, die Kriterien für Abschiebehindernisse sind klar und deutlich festgelegt und auch für die Durchführung der Abschiebung ist ein klares Procedere genannt.
Wenn am Ende gewissenhafter rechtsstaatlicher Verfahren und Prüfungen eine Ent- scheidung für eine Abschiebung steht, dann ist auch eine Landesregierung mit hu- manitärem Anspruch daran gebunden. Als Landesregierung müssen wir Recht und Gesetz vollziehen.
Wir wissen sehr genau, dass wir neben dem Vollzug des Ausländerrechts in unse- rem Land, viel größere Anstrengungen auf der europäischen Ebene benötigen. Ich glaube, wenn die EU mit dem Elan und Einsatz wie sie beim Wettbewerb agiert auch mit dieser Verve in der europäischen Flüchtlingspolitik zugange wäre, wäre schon einer Vielzahl an Problemen abgeholfen
Zwar ist die von der Europäischen Union für den gesamten westlichen Balkan prakti- zierte Strategie der Assoziierung und Stabilisierung mit dem Ziel eines späteren Bei- tritts grundsätzlich der richtige Weg.
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Es braucht aber noch mehr Anstrengungen für eine Politik, die Fluchtursachen be- kämpft und die jüngsten Entwicklungen zeigen in einer drastischen Art und Weise, dass die bisherigen Bemühungen nicht ausreichen. Tausende junger Menschen, die ihrer Heimat den Rücken kehren, sind ein dramatischer Warnschuss.
Zudem braucht es eine faire Verteilung der Flüchtlinge in der EU. Es kann nicht sein, dass Schweden und Deutschland 50% der Flüchtlinge aufnehmen und andere Län- der ihrer humanitären Verpflichtung nicht nachkommen.
Zudem brauchen wir ein modernes Einwanderungsgesetz, das klare Kriterien für eine Einwanderung nach Deutschland festlegt. Die heutigen Regeln sind kompliziert, unübersichtlich und der Situation eines Landes nicht angemessen, das sich mitten im demografischen Wandel befindet und dem schon heute Tausende von Fachkräften fehlen.
Auf Bundes- wie Landesebene werden wir in dieser Debatte Taktgeber sein.
Im Oktober fand der Flüchtlingsgipfel statt. Wir haben viele Maßnahmen, die beim Gipfel Thema waren, bereits umgesetzt. Mit großer Ernsthaftigkeit haben wir auch die dort eingebrachten Anregungen und Vorschläge geprüft bzw. versuchen politi- sche Verbündete zu finden.
So habe ich mit meiner Kollegin aus Rheinland Pfalz Malu Dreyer und meinem hes- sischen Kollegen Volker Bouffier einen Brief an die Kanzlerin geschrieben, um auf ein modernes Bleiberecht zu drängen. Wir wollen, dass junge Menschen hier eine Ausbildung machen können und sie während dieser Zeit nicht abgeschoben werden. Das wäre eine Win-win-Situation für alle Betroffenen. Die Handwerksbetriebe können ihren Nachwuchs ausbilden und die jungen Menschen haben eine qualifizierte Aus- bildung, die ihnen nutzen wird, wo immer sie auch später leben werden.
Leider ist diese Initiative zu einem erweiterten Bleiberecht bei der Bundesregierung bisher nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Aber da werden wir nicht nachlassen in unseren Bemühungen und weiter Druck aufbauen.
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Mein Schreiben an die Kanzlerin wegen der Personalsituation beim Bundesamt für Migration war hingegen von mehr Erfolg gekrönt und mit der kräftigen Personalauf- stockung werden wir die Verfahren hoffentlich deutlich verkürzen können.
Dies ist uns wichtig, denn wir wollen die Menschen die bei uns bleiben von Anfang an integrieren und mit einer humanen Flüchtlingspolitik unserer Verantwortung ge- recht werden.
Menschen, die kein politisches Asyl bekommen, haben aufgrund der kürzeren Ver- fahrensdauer auch Klarheit über ihren weiteren Weg.
Wir werden die große Aufgabe, Menschen in Not Schutz zu gewähren, nur gemein- sam meistern können. Dabei werden wir auch immer wieder Kompromisse machen und schwierige Entscheidungen treffen müssen. Bisher ist es uns recht gut gelungen diese Aufgabe zu stemmen und die Bevölkerung dabei mitzunehmen. Daran werden wir weiter mit Nachdruck arbeiten – an einem weltoffenen Baden-Württemberg, das seiner humanitären Verantwortung gerecht wird und Menschen in Not hilft und mög- lichst vielen Menschen in schwierigen Lebenslagen bessere Perspektiven aufzeigt.
Mit grünen Grüßen
Winfried Kretschmann MdL